Julia Maria
Wenn man auf das Leiden blickt, das Julia in den folgenden Jahren führte, so kann man zu der Ansicht kommen, dass dieses Leben eigentlich sinnlos war. Da war ein Mensch, der nie ein Wort sagte, denn er war stumm; der nie mehr etwas erblicken konnte, denn er war blind; der sich nie mehr selbständig regen und bewegen konnte, denn er war völlig bewegungsunfähig; der nie mehr alleine essen und trinken konnte, denn er musste zunächst künstlich ernährt und später dann mit einem Löffel gefüttert werden, ganz zu schweigen von den anderen körperlichen Verrichtungen. Ja: Julia Maria war ohne fremde Hilfe lebensunfähig und zum Sterben verurteilt.
Aber dieses äußerlich völlig paralysierte Mädchen hatte andere Fähigkeiten. Unter anderem hatte es die Möglichkeit, mit ein oder zwei Gebärden auszudrücken, ob ihm etwas freudevoll oder schmerzlich war. Gab es etwas Unangenehmes oder Schmerzliches, so weiteten sich ihre Augen oder sie krampfte; war ihr etwas angenehm oder freudevoll, so ertönte ein Geräusch, wie wir es gelegentlich äußern, wenn uns etwas gut schmeckt. Kam ein sympathischer Mensch zu Besuch, so ertönte dieses sanfte, leise Schmatzen. Waren stattdessen ihre Augen schreckensgeweitet und erfolgte zudem ein Krampf, so wussten die Eltern und wurden darin ohne Ausnahme bestätigt, dass Vorsicht am Platze war.
Julia hat noch anders gewirkt. Am Ort, wo sie wohnte, wurden zum Teil schwer erziehbare Jugendliche im Familienverband betreut. Auch in Julias Familie lebten ein, zeitweilig zwei solche Jugendliche. Und wenn sie, die oft ein hartes, manchmal boshaftes Verhalten zeigten, Julia sahen, so konnte dies, wenn auch nicht immer, eine ganz besondere, verwandelnde Wirkung haben. Die Jugendlichen haben die Hilfsbedürftige getragen oder sich auch anderweitig für sie eingesetzt. So hat dieses schwerstbehinderte Kind nicht nur an der Harmonisierung der Familie mitgewirkt, sondern sie hatte auch an der Normalisierung dieser Jugendlichen ihren Anteil.
Man könnte noch viel über Julia sagen. So hatten die Eltern oft das Gefühl, als sei ihr Seelenwesen gar nicht in ihrem Leibe inkarniert, sondern über ihr geschwebt. Ein englischer Freund äußerte einmal, dass er Julia als Seele empfinde, die über der Familie und sogar dem ganzen Anwesen wache, auf dem mehrere Familien in einer Art Gemeinschaft lebten. Für diese Wahrnehmung spricht, dass Julia nicht nur im Familienverband, sondern auch bei anderen Menschen in Träumen erschien. Menschen, die sie vielleicht nur einmal gesehen hatten, träumten von ihr, dass sie laufen und sprechen konnte. Nun kann man sagen: Das waren Wunschträume; sie sahen dieses Elend und träumten dann, dass es besser würde. Aber manchmal lag in diesen Träumen etwas Objektives, ja mitunter sogar Offenbarendes.
Der Psychiater Klaus Dörner spricht in seinem Buch „Tödliches Mitleid“ vom „Pannwitz-Blick“. Einen vergleichbaren Blick haben die Eltern nahezu täglich entdeckt, bei Anverwandten, Freunden, ja mitunter auch bei sich selbst. Einen Blick, der mitleidsvoll und befremdet zugleich auf Julia schaute. Ein Blick, hinter dem das Urteil über Julias Leben stand: „Es wäre besser, wenn dieses Kind nicht existierte.“ Ähnliche Gedanken haben auch die Eltern manchmal heimlich gedacht, vor allem anfangs und in besonders schweren Zeiten. Mit den Jahren aber verschwanden sie; die Erfahrungen mit Julia ließen dafür keinen Raum.
Stattdessen beschäftigte sie mehr und mehr eine andere Frage: Wie verhalten wir uns, wenn sie wieder todkrank wird? Sie entschieden, nichts zu unterlassen, was menschlich geboten erschien, um ihr Leben zu erhalten und zu erleichtern, aber auch nichts zu tun, was es durch qualvolle medizinische Prozeduren künstlich verlängerte. Instinktiv waren sie sich bewusst, dass dies einer besonderen Sensibilität bedurfte.
Auch hier waren es Julia und ihr Leid, welche die Eltern mit den Jahren immer mehr zu dieser Sensibilität und Wahrnehmungsfähigkeit erzogen. So reifte der Abend heran, an dem sie ein intensives Gespräch miteinander führten, in dem sich ihnen der Sinn von Julias Leben in nie gekannter Klarheit enthüllte. An diesem Abend spürten sie, dass sie gehen wollte. Und in der Tat ist sie in der darauffolgenden Nacht ruhig und friedevoll eingeschlafen. Als Todesursache wurde ein Banalinfekt diagnostiziert, der einige Monate nach einer nicht völlig überstandenen Masernkrankheit aufgetreten war, die ihr Herz angegriffen hatte.
Eine ältere Frau, welche der Mutter bis zum Schluss bei Julias Pflege behilflich war, äußerte: „Ich habe diesem Kind viel zu verdanken; sie hat mir über schweres persönliches Leid hinweggeholfen. Sie war so ein liebes, geduldiges Kind.“
Auf dem Totenbett war von ihrer Behinderung nichts mehr zu sehen; sie hatte ein ganz klares, reines Gesicht, über das Menschen, die sie sahen, sagten, es sei etwas sehr Schönes.
Da war ein kleines, noch nicht einmal ganz acht Jahre alt gewordenes Mädchen, das Schweres gelitten hatte mit großer Geduld und Konsequenz, und dies während der meisten Zeit seines Lebens. Und wer diesem Menschen nahe gekommen war, fühlte eine Art innerer Achtung, ja Ehrfurcht in sich aufkeimen. Und diese Achtung, Ehrfurcht und Liebe waren am größten nach Julias Tod.